Newsletter 14. Juni 2024
verfasst von Hartwig Thomas

Newsletter online: https://www.schellack-archiv.ch/repository/newsletter/24-NL0004Z.html

Laufend kommen neue digitalisierte Tonspuren von Schellackplatten in das Archiv der Schweizerischen Stiftung Public Domain. Diejenigen, die uns irgendwie interessant vorkommen, werden jeweils in unregelmässigen Abständen in einem Newsletter zusammengestellt.

Diesmal stellen wir vorwiegend klassische Musik, Salonmusik und die Schenkung von Thomas Kohler, Münchenstein mit Schwerpunkten Schweizer Musik und Marschmusik, deutscher Unterhaltungsmusik vor.

Unsere Website (https://www.schellack-archiv.ch/) enthält nähere Erklärungen zum Stand unserer Arbeiten.

ENGLISH SUMMARY

This newsletter documents the progress in establishing an inventory of the archive of shellac records of the Swiss Foundation Public Domain. The records mentioned below can be accessed through the following playlists:

Classical Music
Opera
Lied
Opéra Record Label
Beethoven Symphonies
Salon Music
Dance Music
Salon Music by Dajos Béla
Salon Music by Paul Godwin
Military Marches
Swiss Music
Ländler
Pop Music
Jazz
Miscellaneous

Albums:
Johann Sebastian Bach The Musical Offering adapted by Dr. Hans T. David
Ludwig van Beethoven Symphony No. 9 ("Choral") in D Minor conducted by Felix Weingartner
Ludwig van Beethoven Concerto No. 2 in B Flat Major (B Dur), Op. 19 played by Artur Schnabel conducted by Malcolm Sargent
Franz Schubert Rosamunde conducted by Hamilton Harty
Robert Schumann Kinderszenen played by Johnny Aubert
Richard Wagner Parsifal - 3. Aufzug Karfreitagszauber conducted by Siegfried Wagner
Johannes Brahms Symphony No. 3 in F Major conducted by Felix Weingartner
Johannes Brahms Tragische Ouverture op. 81 conducted by Willem Mengelberg

Donations are sorely needed to pay for the materials and the rent of the storage space.

Schellack-Archiv

Neu findet man unser Digitales Archiv Schellack-Platten auch unter den Webadressen (URLs)
https://schellack-archiv.ch/ und
https://shellac-archive.ch/.
Das kann man sich leichter merken.

Schenkung Thomas Kohler, Münchenstein

Wir haben von Thomas Kohler, Münchenstein eine Plattensammlung erhalten. Wir danken ihm dafür. Seine Lieblingsplatten waren:

Klassische Musik

Komplexe Struktur: Das musikalische Opfer

Flötenkonzert Friedrichs des Grossen in Sanssouci
Flötenkonzert Friedrichs des Grossen in Sanssouci

Im Mai 1747 besuchte der evangelische, sächsische Musiker Johann Sebastian Bach den atheistischen, preussischen König Friedrich II in Potsdam, wo sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach als Cembalist am Hof angestellt war. Der König spielte bekanntlich selber Flöte und komponierte ein wenig in seiner "Freizeit". Er präsentierte dem Besucher ein kompliziertes musikalisches Thema und forderte ihn auf, eine Fuge mit diesem Thema zu komponieren. Bach soll daraufhin das dreistimmige Ricercar improvisiert haben. Eine sechsstimmige Fuge konnte er nicht aus dem Stand improvisieren, versprach aber, er wolle "das Thema in einer ordentlichen Fuga zu Papiere bringen, und hernach in Kupfer stechen lassen".

Johann Sebastian Bach mit Rätselkanon
Johann Sebastian Bach mit Rätselkanon

So entstand Das musikalische Opfer.

Dieses Werk bestand aus dem dreistimmigen Ricercar, vielen komplizierten Kanons, einem sechstimmigen Ricercar und einer Trio-Sonate. Alle Teile basierten auf dem Thema des Königs. In den Kanons wurde es von vorne nach hinten und von oben nach unten gespiegelt und auf vielerlei Arten kunstvoll eingebaut. Die Musik war in der gedruckten Version noch von lateinischen Rätseln begleitet.

Die Komplexität des Werks schreckt wohl von Aufführungen ab. Ich erinnere mich noch an eine Aufführung mit (Kopien von) historischen Instrumenten 1984 in Basel. Der unvergleichliche Bach-Interpret Brett Leighton spielte Cembalo, Anne Smith Traversflöte, Hedwig van der Linde Barockvioline und Susan Blake Barockcello.

Die Erfindung der Schallplatte hat musikalischen Laien wie mir den Einblick in die komplexe Struktur dieses Werks etwas erleichtert, weil man es beliebig oft abspielen kann.

Regis
Iussu
Cantio
Et
Reliqua
Canonica
Arte
Resoluta

Auf Geheiß
des Königs
die Melodie
und der Rest
durch kanonische
Kunst erfüllt

Die Bezeichnung Ricercar war üblich für eine Vorform der Fuge und wurde von Bach für das Akrostichon verwendet, welches auf das Thema des Königs anspielt.

In den darauffolgenden Jahrhunderten setzte sich die Vorstellung durch, dass instrumentale Musik Gefühle und Empfindungen ausdrücken müsse, weil ihr ja die Möglichkeit fehle, mit Hilfe von Wörtern den Verstand anzusprechen. Diese Vorstellung führte zu einer Entwicklung, wo sich die Musik sukzessive einschränkender formaler Regeln entledigte.

Das Musikalische Opfer realisiert das diametrale Gegenteil dieses musikalischen Konzepts. Es richtet sich an den Verstand und besteht sozusagen nur aus formaler Struktur. Der Inhalt, das Thema, stammte ja vom König. Dies verschaffte dem Komponisten die Ehre, dass sein Name von Douglas Hofstadter 1979 in den Titel "Gödel, Escher, Bach" des ersten grossen Buchs über künstliche Intelligenz aufgenommen wurde.

Alte und klassische Instrumentalmusik

Eine Playlist mit weiterer alter und klassischer Musik von Bach bis Weingartner enthält kürzere Stücke. Der Basler Felix Weingartner, der sonst als Dirigent bekannt ist, hat auch eigene Kompositionen wie diesen Spuk neckender Geister in Basel dirigiert.

Opern und Gesang

Xenia Belmas
Xenia Belmas

Eine Playlist mit Ouvertüren und Arien aus Opern enthält unter anderem die Juwelenarie aus der Oper Faust von Gounod gesungen vom ukrainische Sopran Xenia Belmas.


Bianca Castafiore
Bianca Castafiore

Es ist mir unmöglich, "Aaah! Je ris de me voir si belle ..." zu hören, ohne an die Figur Bianca Castafiore in den Tintin (Tim und Struppi) Comics von Hergé erinnert zu werden. Diese etwas schrullige Freundin von Tintin kommt in verschiedenen Alben seiner Comics vor und singt immer die Juwelenarie und sorgt sich jeweils, dass ihr jemand ihre Juwelen gestohlen hat.

Er hat ihr auf der Höhe seines Schaffens eines der letzten und besten Alben Les Bijoux de la Castafiore gewidmet, wo alle Leser-Erwartungen jeweils enttäuscht werden und sich in Gelächter auflösen.

Eine Playlist mit Liedern und anderen Arien enthält unter Anderem den Erlkönig von Schubert, das Wiegenlied Schlafe, mein Prinzchen, schlaf' ein von Mozart, welches mir meine Mutter jeweils ohne die anzügliche zweite Strophe gesungen hat, und das witzige, politisch böse Lied vom Floh.

Feodor Ivanovich Chaliapin
Feodor Ivanovich Chaliapin

Letzteres wurde ins Russische übersetzt aus dem deutschen Lied (Faust, Auerbachs Keller, Mephisto) von Johann Wolfgang von Goethe, von Modest Moussorgsky komponiert, von Nikolai Rimsky-Korsakov herausgegeben, von Igor Stravinsky orchestriert und wird hier von Theodore Chaliapine gesungen. Seine Interpretation wurde 1999 in die "Grammy Hall of Fame" aufgenommen. Eine eindrückliche Zahl von Berühmtheiten Menschen hat zu dieser Tonspur beigetragen.

Opéra

Eine kleine Playlist enthält Aufnahmen des obskuren Plattenlabels Opéra, das offensichtlich zur Pathé-Familie gehört. Angeblich wurde dieses Plattenlabel 1921-25 benutzt, die Aufnahmen scheinen mir aber älter.

Beethoven

Pünktlich zum 200-jährigen Jubiläum haben wir ein vollständiges Album mit Beethovens Neunter Symphonie gefunden und digitalisiert.

Damit sind nun alle neun Symphonien von Beethoven in unserem Archiv verfügbar. Sieben dieser Aufnahmen werden vom Basler Felix Weingarten dirigiert.

Weitere Alben

Ausser den oben erwähnten sind diese weiteren Alben mit klassischer Musik zum digitalen Archiv hinzugekommen:

Salonmusik

Die Schenkungen enthalten viel Salonmusik. Diese leichte Musik habe ich bisher eher stiefmütterlich behandelt. Das allein ist schon ein Argument, um sich diese Musik näher anzuschauen.

Man findet einerseits viel Tanzmusik, oft in der Form von "Potpourris" - wie konnte sich "faulig riechender Topf" als Bezeichnung für Medleys etablieren? - populärer Melodien, andererseits manchmal als "Charakterstücke" bezeichnet Kurzkompositionen.

Ein solches war zum Beispiel die Parade der Zinnsoldaten. In russischen Vaudevilles wurde diese mit der Anekdote verknüpft, dass einmal ein Zar nach Abnahme der Parade seiner Soldaten in sein Schloss zurückkehrte, ohne den Halt-Befehl gegeben zu haben. Dieser Befehl erreichte die Soldaten erst, als sie schon in Sibirien angekommen waren.

Schon die Bezeichnung "Salonmusik" ist vieldeutig. Im 19. Jahrhundert gab es wohl neben den literarischen auch musikalische Salons, wo das gehobene Bürgertum mit der von Fürsten finanzierten Kammermusik konkurrierte. In diesen Salons waren kleine Stücke wie Schumanns Kinderszenen zu hören. Es wurde aber wohl auch tanzbare Hintergrundsmusik gespielt.

Zur Zeit der Schellackplatten ist Salonmusik in Tanzhallen, Kurparks, mondänen Hotels und auf Kreuzfahrtschiffen zu hören und diente vor allem dem bürgerlichen Tanzvergnügen. Die Salonmusik der Städter entsprach dem Ländler der Landbevölkerung.

Dajos Béla
Dajos Béla

In dieser ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es Salon-Orchester, wie diejenigen von Marek Weber, die den Jazz strikt vermieden und vor allem Walzer und Ähnliches spielten, während andere, wie Dajos Bélas Salon-Orchester und Paul Godwins Formationen, die Neuerungen aus den USA dankbar aufnahmen.

Man darf sich nicht von Namen irreführen lassen. Kompositionen wie Sakura no hana von Yoshimoto sind im Kern sehr deutsch. Carl Zimmer aus Guben hat sich nur einen gut klingenden japanischen Namen zugelegt. Auch Dajos Béla musste sich auf Wunsch der Plattenfirma einen ungarischen Namen zulegen. Er wurde als Leon Golzmann in Russland auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren. Pinchas Goldfein stammte ebenfalls aus dem russischen Kaiserreich, aus dem Gebiet des heutigen Polen, und nannte sich als Musiker in Deutschland Paul Godwin.

Die Salonmusik ist in den letzten Jahrzehnten bei uns wieder salonfähig geworden. Dazu hat das Schweizer Salon-Orchester I Salonisti entscheidend beigetragen. Dieses ist international berühmt geworden, weil es im Film "Titanic" das Salon-Orchester auf der Titanic spielte. Heute wird Salonmusik eher in kleinen Konzertsälen gespielt und enthält weniger Tanzmusik. Was seit der Schellackzeit geblieben ist: Man trifft in diesen Konzerten oft auf Stücke von Komponisten, deren Namen man noch nie gehört hat.

Marschmusik

Leider wird immer noch auf brutalste Art Krieg geführt, aber dabei wird kaum mehr marschiert. So kennen wir Marschmusik höchstens noch von Empfängen hoher Politiker.

Diesmal sind es vor allem Schweizer Märsche aus der Schenkung von Thomas Kohler.

Helvetica und Ländler

Ebenfalls vorwiegend aus der Schenkung Thomas Kohler stammen Schweizer Musik, Lieder und Ländler.

Unterhaltungsmusik

Obwohl klassische Musik den Schwerpunkt dieses Newsletters bildet, haben wir auch ein paar Schlager und Jazz-Platten digitalisiert.

Besonders aktuell scheint der Schlager Ich glaub' die Welt dreht sich verkehrt.

Verschiedenes

Diese Playlist enthält wieder ein Sammelsurium von Kuriosem und Ausländischem.

Aufgefallen ist uns diese witzige Interpretation der Mühle im Schwarzwald.

Auch dieses I Want My Mama beendet diesen Newsletter auf einer leichten Note.

Spenden werden dringend benötigt

Twint-Code

Die Schweizerische Stiftung Public Domain ist dringend auf Spenden angewiesen, um die Büro- und Lagermiete und das Archivmaterial (Plattenhüllen, Archivschachteln) zu bezahlen. Sämtliche Arbeit am Archiv wird ehrenamtlich geleistet. Bitte unterstützt diese Arbeit!

CD als Dank

Wer 100 Franken spendet, erhält auf Wunsch eine CD mit rund 20 selbstgewählten 20 Titeln.

Mitgliedschaft Förderverein

Wer wünscht, dass es das Schellackplatten-Archiv auch in zwei Jahren noch gibt, wird gebeten, dem Förderverein beizutreten.

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