Newsletter 25. August 2023

Newsletter online: https://www.publicdomainpool.org/repository/newsletter/23-NL0006Z.html

Laufend kommen neue digitalisierte Tonspuren von Schellackplatten in das Archiv der Schweizerischen Stiftung Public Domain. Diejenigen, die uns irgendwie interessant vorkommen, werden jeweils in unregelmässigen Abständen in einem Newsletter zusammengestellt.

Diesmal haben wir eine Jazz-Kollektion von den Erben von André Bodmer, ehemals Kinderarzt in Thalwil, zur Integration in das Schellack-Archiv geschenkt erhalten und digitalisiert.

Unsere Website (https://www.publicdomainpool.org/) enthält nähere Erklärungen zum Stand unserer Arbeiten.

Spenden werden benötigt

Die Schweizerische Stiftung Public Domain ist dringend auf Spenden angewiesen, um die Büro- und Lagermiete und das Archivmaterial (Plattenhüllen, Archivschachteln) zu bezahlen. Sämtliche Arbeit am Archiv wird ehrenamtlich geleistet. Bitte unterstützt diese Arbeit!

Wer wünscht, dass es das Schellackplatten-Archiv auch in zwei Jahren noch gibt, wird gebeten, dem Förderverein beizutreten.

Es genügt, uns eine Anmeldung als Antwort auf diesen Newsletter zu senden.

Sammlung Bodmer

Dank der Vermittlung von Thomas Bodmer, meinem Klassenkamerad im Gymnasium Freudenberg, schenkten uns die Erben seines Vaters André Bodmer, ehemals Kinderarzt in Thalwil, dessen beträchtliche Sammlung von Schellackplatten. Es handelt sich fast ausschliesslich um Jazz-Platten, die wohl in den 40er und 50er Jahren erstanden wurden. André Bodmer war ein grosser Jazz-Fan und ich glaube, mich zu erinnern, dass er selber, bei einem meiner Besuche bei Tommy, zuhause Jazz auf dem Flügel (Piano?) gespielt hat.

Die grosse Bodmer-Playlist

Die meisten Platten der Sammlung Bodmer haben wir in einer grossen Playlist zusammengefasst. Damit diese nicht zu gross wurde, haben wir Stücke berühmter und weniger berühmter Frauen in einer separate Playlist zusammengestellt. Interpreten mit mindestens sechs Stücken haben wir ausserdem in einzelne Playlists ausgelagert:

Duke Ellington, 1943
Duke Ellington, 1943

Qu Yunyun (oder Chu Yun Yun)

Qu Yunyun
Qu Yunyun

Eine chinesische Platte in der Bodmer-Kollektion stellte uns vor einige Herausforderungen: Das fing damit an, dass verschiedene angefragte Übersetzungs-Helfer keine, oder nur teilweise Übersetzungen liefern konnten oder wollten. Am Ende mussten wir die einzelnen Textschnipsel auf dem Plattenlabel mit viel Bildverarbeitung in Bilder von Textzeilen verwandeln, die von Google Translate entgegengenommen wurden und einigermassen glaubwürdige Resultate erzeugten.

Offenbar gab es ab 1921 eine Plattenfirma Shanghai Pathé, die Unterhaltungsmusik produzierte. 1952 wurden deren Aufnahmen von den Maoisten in der neuen "Volksrepublik China" verboten, weil sie angeblich die Jugend korrumpierten.

Die Plattenfirma wurde dann nach Hong Kong verlegt und liess die Platten in Indien pressen. Ob sich die Herkunftsbezeichnung "Republic of China" auf China (Shanghai) vor der "Volksrepublik China" bezieht, oder auf die Insel Taiwan, auf die sich Chiang Kai-shek 1950 zurückzog, ist mir nicht klar.

Ich habe einen unklaren Hinweis auf dem Web gefunden, der vermuten lässt, dass die Aufnahme aus dem Jahr 1952 stammt.

Die hier abgebildete Sängerin Qu Yunyun war offenbar sehr populär und ist wahrscheinlich die Interpretin dieser Platte.

Wie diese den Weg nach Thalwil gefunden hat, ist wohl nicht mehr rekonstruierbar.

Golden Gate Quartet

Diese Aufnahme des Golden Gate Quartet, die besingt, wie die Posaunen von Josua die Mauern von Jericho einstürzen liessen, war auf der allerersten Jazzplatte, die mein Vater von seiner ersten Dienstreise in die USA nach Hause brachte. Lange bevor ich lernte, dass Golden Gate eine Brücke in San Francisco ist, stand mir diese Bezeichnung für diese Musikformation.

Meine Mutter, Tochter eines deutschen Musiklehrers, konnte sich nur langsam mit Jazz anfreunden. Solche Aufnahmen mit religiösem Hintergrund von Mahalia Jackson, Paul Robson und dem Golden Gate Quartet mochten noch angehen. Mit dem wunderbaren Vinyl-Album von Verve, das drei LPs voll mit Bebop enthielt, welches mein Vater von einer späteren Reise heimbrachte, konnte sie sich nie anfreunden. Ich durfte dieses Album nur in meinem Zimmer ganz leise auf meinem kleinen Plattenspieler abspielen, weil sie diese Musik als Lärmbelastung empfand.

Famous and Infamous Females

Maxine Sullivan
Maxine Sullivan

Die Mehrheit der weiblichen Interpreten im Jazz waren Sängerinnen. Aber schon früh kamen Frauen auch als Bandleader oder auf anderen Instrumenten zum Zug, wie etwa Valaida, "The Queen of the Trumpet", die hier allerdings auch als Sängerin auftritt.

Ella Fitzgerald hat viele Formatinen geleitet und ist mit einem ihrer unnachahmlichen Scat-Gesang vertreten.

Die mir bislang unbekannte Maxine Sullivan ist eine unverächtliche Sängerin, die hier ein berühmtes Lied von Cole Porter vorträgt.

Jazz in der Schule

Robert Boog
Robert Boog

Tommy Bodmer ist übrigens auch mitverantwortlich für meine - bescheidenen - Kenntnisse der Musikgattung Jazz. Er forderte unseren Musiklehrer Robert Boog auf, nicht nur die Zauberflöte, sondern auch die für das 20. Jahrhundert so wichtige Musikgattung Jazz in der Schule zu behandeln. (Im Jahresbericht 2009/2010 des Freudenberg findet man einen Nachruf auf Robert Boog auf Seite 135.)

Der eher mit E-Musik vertraute Robert Boog arbeitete sich während der Sommerferien in diese Materie ein und behandelte dann ein Semester lang das Thema Jazz im Musikunterricht. So hörten wir viele Musikbeispiele vom Negro-Spiritual bis Bebop.

Ausserdem versuchten wir der Materie mit europäischen Analysemethoden (Melodie, Struktur, Rhythmus, Harmonie) näher zu kommen: Melodisch unterschieden sich Spirituals wenig von Volksliedern (Bar 1, Bar 2, Abgesang). Strukturell glich ein Dixie einem lüpfigen Ländler. (Wir zählten Abschnitte und deren Taktzahlen).

Ein entscheidender Unterschied zur europäischen Musik schien im Umgang mit dem Rhythmus zu liegen. Dabei ging es um Offbeat-Betonungen und Synkopen, wie sie der dem klassischen Musiker vertrautere Béla Bartók kürzlich in seinen Volksgutsammlungen aus Ungarn und dem Balkan thematisiert hatte, welche allerdings die Jazz-Musik bezüglich Komplexität der Rhythmen (5er-, 7er-Takte) oft übertrafen.

Harmonisch war die Sachlage ebenfalls schwierig zu entwirren. Waren frühe Jazzstücke noch im europäischen Sinn in traditionelle Harmonien der Kirchenmusik konzipiert, entfernten sie sich durch absichtliches Danebengreifen und sehr kreativem Umgang (Verzerren) mit der Klangfarbe von Stimme und Instrument in diesem Punkt immer weiter von europäischer Musik. Da die traditionelle europäische Harmonie auf einfachen Zahlenverhältnissen der Schwingungszahlen "reiner" Töne beruht, versagt dieses Konzept so ziemlich, wenn die Töne bewusst unrein gespielt werden und müsste allenfalls durch eine komplexere Theorie des Zusammenklangs von Geräuschen ersetzt werden.

Ausführlicher wurde dann wieder die Beziehung zwischen vom Jazz beeinflusster moderner klassischer Musik von Dvorák, Strawinsky und Bartók und dem amerikanischen Jazz behandelt. So las uns der Lehrer etwa aus einem Brief von Gershwin vor, wo dieser Stravinsky beneidet, wie ernst seine neuen Kompositionen jeweils in Aufführungen in grossen Musikhäusern genommen wurden, wovon er mit seiner Oper und Rhapsody in Blue in den USA nur träumen konnte. (Dieser Respekt für Komponisten und ihre neuen Werke hat in Europa seither eher abgenommen.)

Rückblickend überrascht der Einsatz und die Flexibilität mit der Lehrer und Rektorat damals auf unsere Wünsche eingingen. Unsere Lektürewünsche wurden oft erfüllt. Eine ungeliebte Englischlehrerin wurde durch einen anderen Lehrer ersetzt, nachdem die ganze Klasse das für A-Maturanden freiwillige Wahlfach abgewählt hatte. Und im letzten Jahr vor der Matur wurde eine Latein-Wochenstunde gegen eine zusätzliche Mathematikstunde abgetauscht. Letzteres widerprach ohne Zweifel Reglementen und Lehrplänen und der Rektor bat uns, Aussenstehenden nichts davon zu erzählen ...

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